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Victor

„Alex“, sagte Victor unvermittelt. „Hör mal auf mit den Handyspielchen und sieh dir das an.“

Alex löste widerwillig die Augen vom Display und beugte sich vor. „Was ist?“

Für eine Weile beobachteten beide stumm den Monitor, auf dem zu sehen war, wie sich Gwendolin und Timo augenscheinlich ein heftiges Wortgefecht lieferten.

„Streiten die sich?“, fragte Alex belustigt.

„Keine Ahnung. Wir wüssten mehr, wenn die Tonübertragung in beide Richtungen funktionieren würde“, erwiderte Victor spitz.

„Ich hatte einer Verbesserung der Ausrüstung bereits zugestimmt“, wehrte sich Alex. „Du musst nicht andauernd darauf herumreiten.“

Victor zuckte lediglich mit den Schultern.

„Vielleicht können sie sich nicht einigen, welche Aufgabe sie als Nächstes angehen sollen“, mutmaßte Alex. „Oder sie warten auf die anderen beiden, die draußen unterwegs sind. Dieser Timo wirkte von Anfang an total überdreht.“

„Ich denke nicht, dass sich Gwendolin wegen einer Kleinigkeit so aufregt“, widersprach Victor entschieden.

„Gott, Vic“, ächzte Alex. „Das ist furchtbar. Wenn ich geahnt hätte, wie verschossen du bist, hätte ich dich viel früher zu einem Treffen genötigt.“

„Sie schreibt etwas auf“, murmelte Victor und wirkte dabei, als habe er Alex‘ Stichelei gar nicht wahrgenommen.

„Und was?“, hakte Alex irritiert nach. „Vielleicht machen sie ein Brainstorming zur Bedeutung unserer kryptischen Aufgaben? Brecht den Zacken aus des Wächters Krone. Vermutlich wäre ich als Teilnehmer auch nicht direkt auf einen Baum gekommen. Oder Durchschreitet die ewigen Flammen! Da muss man erst kapieren, dass –“

„Sei doch mal ruhig“, zischte Victor und verfolgte angespannt, wie Gwendolin aufstand, mit dem Zettel in der Hand durch den Raum ging und vor der Kamera in der Zimmerecke stehen blieb.

Victors Herz begann heftig zu klopfen. Es schien, als würde sie ihm direkt in die Augen sehen. Obwohl er wusste, dass sie im Gegensatz zu ihm lediglich in die Linse der Kamera starrte, erwiderte er ihren Blick. Trotzdem war ihm schmerzlich bewusst, dass er Alex damit neue Munition für Witze auf seine Kosten lieferte.

Mit ernster Miene hob Gwendolin das Papier mit beiden Armen über ihren Kopf, sodass der komplette Monitor von ihrer geschwungenen Handschrift erfüllt war.

„Wir brauchen Hilfe“, las Victor vor.

„Langsam bereue ich, dass wir diesen Nervensägen unseren freien Abend geopfert haben. Die stressen mich echt. Wieso können sie nicht wie alle anderen Gruppen die Punkte abarbeiten? Zu allem Übel zahlen sie nur die Hälfte“, schimpfte Alex, betrachtete aber ebenfalls aufmerksam den Bildschirm. „Zum ersten Mal nimmt jemand aus dem Schattenraum direkten Kontakt auf. Entweder wollen sie uns auf den Arm nehmen oder es läuft tatsächlich etwas schief. So viel Gerede wie heute hatten wir noch nie.“

Victor nickte. „Einer fehlt ohne Ankündigung. Dauernd stehen sie herum und diskutieren“, zählte er auf. „Dann dieser seltsame Brief, der plötzlich aufgetaucht ist. Ich sagte vorhin schon, dass wir nach dem Rechten schauen sollten.“

„Und wenn sie sich genau in den zehn Minuten, die wir zur Hütte brauchen, für eine weitere Aufgabe entscheiden?“, wandte Alex ein.

„Unwahrscheinlich“, entgegnete Victor. „Sie sind ja nicht blöd. Sie werden sich denken können, dass wir nicht innerhalb der nächsten Sekunden vor der Tür stehen.“

„Aber …“, setzte Alex an.

„Wir sollten sichergehen“, beharrte Victor. „Immerhin sind wir verantwortlich dafür, dass im Schattenraum alles nach Plan läuft. Jetzt komm endlich.“

„In Ordnung“, seufzte Alex und stand auf. „Wir werden deine Angebetete vor der schrecklichen Gefahr im Schattenraum retten.“

„Nein. Werdet ihr nicht.“

Wie auf Kommando fuhren beide herum. In der offenen Tür stand ein etwa sechzehnjähriges Mädchen mit langen, dunklen Haaren und stechend grünen Augen, das Victor vage bekannt vorkam. Sie hatte die Arme ausgestreckt, und die Pistole in ihrer rechten Hand zielte direkt auf Alex‘ Brustkorb.