10
Victor

Alex und Victor hatten amüsiert die Reaktionen auf den Inhalt der Kiste beobachtet.

„Mit Mädchen ist es einfach lustiger.“ Alex lachte. „Julia wäre fast an die Decke gesprungen. Die hat garantiert geschrien wie am Spieß.“

„Hast du Gwendolin gesehen? Total ruhig und gelassen“, stellte Victor stolz fest und schämte sich im selben Moment. Als hätte er auch nur den geringsten Anteil an Gwendolins abgeklärter Reaktion. Vermutlich wusste sie nicht einmal etwas von seiner Existenz.

„Klar. Gwendolin war unbeschreiblich“, spottete Alex. „Aber du hast recht. Krass, dass sie sich traut, in die Kiste zu greifen“, fügte er eilig hinzu, als er die finstere Miene seines Freundes bemerkte. „Hoffen wir, dass sie nicht auf die Spinnen trifft, die wir vorhin hineingesetzt haben.“

Victor nickte wortlos. Unbehaglich sah er zu, wie Gwendolin, die den Arm bis zum Ellbogen in die Kiste gesteckt hatte, mit sichtbarem Widerwillen in dem Getier herumtastete.

„Das ist jedes Mal aufs Neue ekelhaft“, gab er zu. „Ich bin froh, dass wir das nicht machen müssen.“

„Immerhin erfüllen sie den Auftrag“, sagte Alex. „Erinnerst du dich an die Gruppe, die bloß die Hälfte der Herausforderungen gelöst hat und auf gut Glück in den Wald gestapft ist? Natürlich haben sie sich verirrt …“

Victor stöhnte. „Die waren unvergesslich. Wir waren die halbe Nacht unterwegs, um sie wiederzufinden. Vielleicht sollten wir unsere nächsten Einnahmen verwenden, um das Equipment zu verbessern? Dann wüssten wir direkt, was sie planen und könnten rechtzeitig eingreifen.“

Alex grinste. „Auf diesen Gedanken kommst du nur, weil du die Stimme deiner Angebeteten nicht hören kannst.“

Victor verdrehte die Augen. „Du bist echt ein Idiot. Du musst zugeben, dass es praktischer wäre, wenn wir zusätzlich zum Bild auch Ton hätten. Ich fände es beruhigend zu wissen, was in der Hütte los ist. Außerdem wäre es deutlich lustiger, wenn wir hören könnten, wie sie die Hinweise aufnehmen. Oder wenn wir zumindest mitbekämen, worüber diskutiert wird.“

Alex neigte zustimmend den Kopf. „Ich hätte zu gerne die Schreie gehört, die Julia beim Öffnen der Kiste ausgestoßen hat. Die hätte man sicher für die Tonspur eines Horrorfilms nutzen können.“

„Im Ernst, Alex“, beharrte Victor, während er Gwendolin beobachtete. „Wir wollten zuerst bloß ausprobieren, ob überhaupt jemand an unserem Konzept interessiert ist. Seit der Durststrecke direkt zu Beginn haben wir regelmäßig Anmeldungen, teilweise sogar Wartelisten. Heute Abend wäre der erste unverplante Freitag gewesen! Wir können die nächsten Einnahmen wirklich in Technik statt in weiteres Gruselzeug investieren. Unsere Aufgaben sind durchdacht und unheimlich. Die Schattenraum-Atmosphäre ist perfekt.“

Alex hob kapitulierend die Hände. „Du hast recht. Das nächste Geld stecken wir in unsere Ausrüstung.“

Victors Blick hing weiterhin an Gwendolin, die nach wie vor mit konzentriertem Gesichtsausdruck Insekten und anderes Kleingetier umschichtete. „Ich glaube, sie hat keinen Käfer auf dem anderen gelassen. Bestimmt wird sie den Knochen gleich finden. Machst du die Durchsage?“

„Wieso?“, fragte Alex betont unschuldig. „Hast du Angst, dass sie die Flucht ergreift, wenn du mit Grabesstimme den Hinweis vorträgst?“

„Das ist doch Blödsinn“, wehrte Victor ab, musste sich aber insgeheim eingestehen, dass Alex nicht völlig falsch lag. Undurchsichtige Andeutungen zur Jagd einer Albtraumgestalt sollten nicht ausgerechnet die ersten Worte sein, die Gwendolin von ihm hörte.