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Gwendolin

„Echt blöd, dass es Josh erwischt hat“, stellte Timo mitleidig fest und trat einen abgebrochenen Ast zur Seite. „Nach dem Drama mit Kim hätte er etwas Spaß verdient. Hat kein Glück momentan, der Arme.“

Gwendolin nickte nachdenklich. Als sie sich nach der Schule von ihrem besten Freund verabschiedet hatte, wirkte dieser nicht im Mindesten krank. Zum wiederholten Mal an diesem Tag verfluchte sie ihren Telefonanbieter. Durch einen Fehler war ihr Vertrag gekündigt worden, sodass sie bereits seit drei Tagen ohne Handy zurechtkommen musste. Nach einem erfolglosen Besuch des Servicecenters in der Innenstadt hatte sie nur einen kurzen Abstecher nach Hause gemacht, um ihr Gepäck zu holen.

Erst am Treffpunkt hatte sie erfahren, dass Joshua abgesagt hatte. Der Gedanke daran, die Nacht im Schattenraum ohne seine Unterstützung zu verbringen, erfüllte sie mit Unbehagen. Dennoch kam nicht infrage, das Ganze abzubrechen, zumal die realistische Chance bestand, dass die Angstzustände auf Kims Stalking-Aktionen zurückzuführen waren. Vielleicht hatte ihr Unterbewusstsein die heimliche Beobachterin gespürt? Immerhin waren seit der Eskalation am vergangenen Sonntag die Panikattacken ausgeblieben. Andererseits war es nicht das erste Mal, dass sie mehrere Tage oder sogar Wochen Ruhe hatte. Gwendolin seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Trotzdem wäre es schöner, wenn Joshua bei ihnen wäre.

„Gleich 20 Uhr“, verkündete Julia nach einem prüfenden Blick auf ihr Handgelenk. „Perfektes Timing. Und es beginnt zu dämmern. Wie stimmungsvoll.“

„Wir müssen herausfinden, was uns erwartet“, drängte Timo. „Die Zeit läuft. Je schneller wir sind, desto besser unsere Listenplatzierung auf der Homepage. Die Mail des Orga-Teams enthielt bloß die nötigsten Anweisungen. Die Tür ist nicht verschlossen. Wir sollen es uns drinnen gemütlich machen.“

Julia zog schaudernd die Schultern hoch. „Letzte Gelegenheit umzudrehen. Wer weiß, was diesen Typen einfällt. Ich brauche keine Idioten, die mich erschrecken. Die Aussicht auf eine Nacht in der Waldhütte ist gruselig genug.“

„Wir beschützen euch!“, behauptete Timo großspurig, während David lediglich amüsiert lächelte.

Gwendolin stieß ihrer Freundin sanft in die Seite. „Vermutlich müssen wir die Jungs trösten“, sagte sie mit einem Grinsen und versuchte damit hauptsächlich, sich selbst zu überzeugen. „Wir werden unseren Spaß haben.“

Eilig legten sie die letzten Meter zurück. Als ihre Unterkunft für die kommenden Stunden zwischen den Stämmen auftauchte, blieb Julia ruckartig stehen und stieß heftig die Luft aus.

„Wie im Horrorfilm“, ächzte sie.

Gwendolin folgte dem Blick ihrer Freundin und kam nicht umhin, ihr recht zu geben. Der Schattenraum sah tatsächlich exakt so aus, wie sie es nach dem Genuss zahlreicher Horrorfilme erwartet hatte. Die Hütte war so klein, dass sich im Innern vermutlich nur ein einziger Raum befand. Das abgeschrägte Dach bestand aus brüchigem Blech, und das verwitterte Holz der Außenwände hob sich in der Dämmerung kaum von den Braun- und Grüntönen des Waldes ab. Lediglich ein Fenster war intakt, und dessen Glas war schon vor langer Zeit erblindet. Die übrigen Öffnungen waren zum Teil mit Brettern vernagelt, zum Teil gähnten sie wie dunkle Löcher in der Wand. Alles in allem machte die Hütte keinen einladenden Eindruck. Gwendolin grinste unwillkürlich. Womit hatten sie gerechnet?

Julia hatte sich leidlich vom ersten Schock des Abends erholt. „Da drin sollen wir übernachten?“

Timos Augen leuchteten. „Ist doch cool! Ich frage mich, wie sie dieses Schmuckstück gefunden haben.“

David ignorierte sowohl Timos Begeisterung als auch Julias offensichtlichen Widerwillen, legte beide Handflächen an die Tür und schob sie langsam auf. Ein kratzendes Geräusch ertönte, das Gwendolin unwillkürlich eine Gänsehaut über den Rücken schickte. Timo drückte sich an seinem Freund vorbei und betrat, ohne zu zögern, den Innenraum.

„Kommt ihr?“, forderte er sie auf und verschwand nur Sekunden später im Dämmerlicht der Hütte.

Gwendolin fröstelte und umfasste den Träger ihres Rucksacks fester. Die Sonne war schon vor Längerem hinter den Baumwipfeln verschwunden, und der kalte Wind, der durch die Blätter rauschte, erinnerte daran, dass die Nächte im April noch empfindlich kühl sein konnten.

„Wo bleibt ihr denn?“, ertönte von drinnen Timos Stimme.

Gwendolin tauschte einen belustigten Blick mit David, dann folgte sie ihm in den Schattenraum.


Es dauerte einen Moment, bis sich Gwendolins Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Bewegungslos stand sie im Türrahmen und hielt sich mit einer Hand an dem spröden Holz fest. Mit einem Mal wurde sie von heftiger Beklommenheit überflutet.

„Gwendolin?“, beschwerte sich Timo. „Kannst du mal aus dem Weg gehen? Du stehst im Licht.“

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Gwendolin das ungute Gefühl und gab mit einem weiteren Schritt die Tür frei. Wie erwartet bestand das Innere aus einem großen Raum, in dessen Mitte ein wuchtiger Holztisch mit wild zusammengewürfelten Stühlen stand. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein hüfthohes Regal mit verschiedenen Schubladen und eine massive Truhe, die mit einem Schnappschloss gesichert war.

Julia, die hinter ihr die Hütte betreten hatte, schaute sich suchend um. „Gibt’s hier kein Badezimmer?“, fragte sie entgeistert, woraufhin Gwendolin ein Kichern unterdrücken musste.

„Etwa zwanzig Meter vom Haus entfernt ist ein Plumpsklo“, informierte Timo und registrierte mit unverhohlener Schadenfreude Julias Entsetzen. „Was hattest du hier draußen erwartet? Eine Sauna mit Whirlpool?“

Julia ließ ihre Tasche zu Boden fallen. „Ich bereue schon jetzt, dass wir hergekommen sind.“

Gwendolin strich ihr tröstend über die Schulter. „Ich begleite dich jederzeit zur Toilette“, versprach sie mit einem Schmunzeln.

„Dir bleibt nichts anderes übrig!“, erwiderte Julia spitz. „Sobald es dunkel ist, werde ich keinen Schritt mehr alleine tun!“

Ohne auf Julias Nörgelei einzugehen, inspizierte Timo die Schubladen des Regals. „Hier befindet sich die Ausrüstung für heute Nacht. Zwei Petroleumlaternen, ansonsten Unmengen an Kerzen und Streichhölzern. Außerdem ein Kompass und ein Verbandskasten. Die Verpflegung sieht auch nicht übel aus“, bemerkte er erfreut, während er Stück für Stück hinter sich auf den Boden legte. „Cola, Wasser und Sandwiches. Äpfel. Oh, und meine Lieblingskekse! Hat jemand etwas dagegen, wenn ich die Packung direkt anbreche?“

„Wir sollten die beiden Laternen anzünden“, schlug David vor. „Hier draußen wird es schnell dunkel. Es ist ausreichend Öl vorhanden, um die Nacht zu überstehen.“

„Gute Idee“, stimmte Gwendolin zu. „Lass uns zusätzlich einige Kerzen anstecken. Wir haben genug.“

Wenige Minuten später war die Umgebung in flackerndes Rot getaucht. Die Flammen ließen zuckende Schatten an den Wänden tanzen.

David legte die Streichhölzer auf den Tisch. „Ich sehe mir das Gelände um die Hütte an, solange es noch halbwegs hell ist.“

„Okay“, sagte Timo zufrieden. „Wir schauen uns hier drinnen um.“

Er steckte sich einen Keks in den Mund, ergriff den Bügel der größeren Laterne und leuchtete die Wände ab. „Unsere Zeit läuft“, erinnerte er kauend. „Ich will die Liste stürmen. Wir müssen herausfinden, wo die Aufgaben sind.“

„Tu dir keinen Zwang an“, versetzte Julia und ließ sich mit verschränkten Armen auf einen Stuhl fallen, während Gwendolin ebenfalls damit begann, den Raum zu untersuchen.

Wenige Minuten später kehrte David von seiner Erkundung zurück.

„Der Wald, der die Hütte umgibt, ist ziemlich dicht“, berichtete er. „Abgesehen von dem Weg, den wir genommen haben, existiert ein weiterer Trampelpfad, der irgendwo ins Unterholz führt. Habt ihr etwas entdeckt?“

Timo schüttelte bedauernd den Kopf. „Nichts.“

David zog die Tür hinter sich zu und stieß einen Laut der Überraschung aus. Gwendolin folgte seinem Blick und hielt inne. An dem verwitterten Holz hing ein eng beschriebener Papierbogen, der von einem altertümlichen Dolch fixiert wurde.